Wir starten zu dritt um Mitternacht in Madulain (1697m), einem kleinen schönen Dorf im Oberengadin. Direkt hinter der Bahnlinie geht es bergan, den Wanderschildern folgend Richtung Chamanna d’Es-cha. Hier unten liegt jetzt, Ende April, kein Schnee mehr, und mit frühlingshaftem Duft nach Tannen und Gräsern geht es rasch bergan. Ohne die Skischuhe an den Füssen und den Skiern auf dem Rücken lässt es sich schon flotter laufen! Durch den schmalen Waldgürtel erreicht man schnell die Alp Es-cha Dadour (2063m), und bei Sternenhimmel kommen wir immer noch trockenen Fusses auf der Alp Es-cha Dadains (2170m) an. Bis hierher braucht man eine gute Stunde. Wir legen uns auf mit Isomatte und Schlafsack vor die Hütte und geniessen die ruhige Nacht.
Der Wecker klingelt um kurz vor 6 Uhr, und relativ ausgeschlafen gibt es ein Brot oder Riegel zum Frühstück. Der Himmel ist stellenweise blau, ansonsten schieben sich ein paar Wolken herum. Gegen 6:20 Uhr gehts los, erst den Hang hinter der Hütte hinauf, bis wir auf den Wanderweg zur Cna d’Es-cha stossen, der aber bald im Schnee verschwindet. Die Harschkruste trägt noch ganz gut, ohne Schneeschuhe geht es um den Muot Ot (P. 2562) zur sonnenbeschienenen Cna d’Es-cha. Hier machen wir erst nochmal Frühstückspause, wir sitzen mitten im Wolkenloch, und der felsige Aufbau vom Piz Kesch ragt in den blauen Himmel. Die Hütte ist noch zu, liegt aber auf ihrer Aussichtsterrasse wunderschön! Bald geht es weiter, wir schnallen die Schneeschuhe an, und alten Skispuren folgend erreichen wir in gut 1-1,5 Stunden die Porta d’Es-cha. Kurz vor Erreichen des Steilstücks muss ein sehr steiler Hand gequert werden, der bei Lawinenlage wohl recht heikel ist. Dann nimmt man am besten nicht den Wanderweg, sondern den durch die Plazzetta, ein kleines Hochtal. Die letzten fünfzehn Höhenmeter zur Porta hinauf zieht man die Skier aus, wir stapfen mit den Schneeschuhen die vorhandenen (kleinen) Tritte hoch. Der Schnee wird schon sulzig, und man sinkt gut ein.
Oben angekommen öffnet sich der Blick nach Norden auf ein riesiges Wolkenmeer über allen Bergen nördlich des Engadins, der Wahnsinn. Im Gegensatz zu letztem Mal hier, als zwei von uns praktisch nichts gesehen haben, liegt nun die Aufstiegsroute deutlich vor uns. Über den Porchabellagletscher geht es flott und leicht bergan, bis wir auf ca. 3200m unser Gepäck zurücklassen und Richtung Nordostgrat gehen. Als es aufsteilt, ziehen wir die Steigeisen an und folgen den Trittspuren im noch gut festen Schnee steil hinauf. Jetzt sind es noch so 150 Höhenmeter. Es liegt noch viel Schnee, wir müssen nur zweimal über Felsen kraxeln. An einem grösseren Felsband sichern wir an den vorhandenen Bohrhaken, mit dem 60-Meter Seil kommt man weit vor. Ich sichere an einem Felszapfen nach, und über eine kurze Schneeflanke ist der Gipfel (P. 3418) schnell erreicht. Der hat immer noch kein Gipfelkreuz, sondern nur einen Holzstecken.
Es ist jetzt 10 Uhr, von der Porta d’Es-cha haben wir damit knapp über eine Stunde gebraucht, bis wir auf dem Gipfel waren.
Wir stehen über den Wolken, welche in allen Richtungen die Gipfel umhüllen, nur genau hier eben nicht. Strahlendblauer Himmel und nur einen leichte Brise gibt ein entspanntes und schönes Gipfelfeeling. Durch die Wolken sieht man Piz Palü, Piz Bernina, und gegen Osten Piz Linard und ein paar Gipfel des Rätikon. Niemand sonst ist unterwegs. Wir üben noch ein paar Seilhandhaben an einem Gipfelfelsen, bis wir uns nach einer halben Stunde wieder auf den Runterweg machen. Wenn wir das Seil schon mal dabei haben, können wir uns auch über die steileren Stellen abseilen. Im Handumdrehen ist man wieder unten bei den Schneeschuhen, und schon ziehen Wolken über die Keschnadel und verhüllen den Gipfel. Nacheinander laufen wir die kurze Strecke hinunter zu unserem Depot, wo dann diverse Tafeln Schokolade angebrochen werden. Hier ist es jetzt wirklich warm, obwohl die Sonne nicht mehr so knallt.
Die Schneedecke trägt jetzt nicht mehr so wie während des Aufstiegs, und wir sind froh um die Schneeschuhe, als wir uns um halb Zwölf auf den Abstieg über den Porchabellagletscher machen. Rasch ist man an der Felsinsel rechts vorbeigelaufen und erreicht die Gletscherzunge. Das bekommt man bei Schnee allerdings gar nicht mit. Hält man sich weit rechts, hat man auch mit Spalten keine Probleme. Der Blick streicht über eine kleine Erhebung, auf der die Keschhütte steht, und schaut im Hintergrund auf den Sertig- und den Scalettapass. Das ist eine wunderschöne Landschaft aus Hochtälern, Pässen und Seen, die bis nach Davos reicht.
Wir wenden uns nach links ins Tal, welches Richtung Chants führt. Durch den immer weicheren Schnee geht es nun schnell abwärts. Hin und wieder halten wir an und geniessen die Sonnenstrahlen, die jetzt wieder hinabscheinen. Etwa auf halber Strecke wird der Schnee löchrig, und wir ziehen die Schneeschuhe aus. Weiter gehts auf dem Wanderweg, wir erreichen die ersten Bäume und stehen bald vor den Häusern von Chants (1822m). Das ist eine kleine Siedlung an der Talscheide des Val Tuors. Im Moment scheint aber noch nicht viel los zu sein, und ohne eine Menschenseele zu treffen, machen wir uns nach kurzem Brunnenaufenthalt auf Richtung Bergün. Jetzt heisst es nur noch Kilometer auf der schneefreien Strasse herunterlaufen. Nach ca. 1-1,5 Stunden erreicht man die Brücke der Rätischen Bahn und fünf Minuten später den Bahnhof von Bergün.
Ohne Hüttennutzung lange Bergtour auf einen sehr dominanten Aussichtsberg, zu allen Jahreszeiten ein Genuss. Jetzt in der Übergangszeit am besten mit Schneeschuhen. Schlüsselstellen sind die Porta d’Es-cha als Steilaufschwung (aber installierter Kette), und der Gipfelaufbau (im Sommer unschwierig kraxeln, im Winter je nach Schneelage heikel). Wenn Lawinengefährdung, dann nur an den Schlüsselstellen. Aufstieg 1800 Hm (von Madulain), Abstieg 2100 Hm (nach Bergün). Erreichbar top mit der Rätischen Bahn.