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    Durch Italiens letzte Wildnis: Wandern im Val Grande

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    Durch Italiens letzte Wildnis: Wandern im Val Grande

    Auf den Spuren der Partisanen: eine einsame Wanderung durch die geschichtsträchtige Wildnis Italiens

    Der Nationalpark Val Grande liegt im westlichen Hinterland des Lago Maggiore und gilt als das größte Wildnisgebiet der Alpen.

    Nach dem zweiten Weltkrieg wurde es annähernd sich selbst überlassen, bis dann 1992 der Nationalpark gegründet wurde. Seit dem werden die Hauptrouten sowie einige Bivacci entweder durch die Parkverwaltung, oder durch private Organisationen und Personen wieder gepflegt. Durch die hohen Niederschlagsmengen und das stark zerklüftete Gelände, holt sich die Natur schnell nicht gepflegte Pfade zurück. Vor Touren auf eigene Faust, abseits der Hauptrouten, wird vielerorts gewarnt. Durch die Eigenschaften des Nationalparks sind Wanderungen tatsächlich anspruchsvoll, die Orientierung schwierig, die Höhenmeter viele.

    Gutes, aktuelles Kartenmaterial ist kaum oder nur bruchstückhaft vorhanden. Tim Shaw kümmerte sich die letzten Jahre darum, das alte Kartenmaterial aus den 1960ern zu aktualisieren, alte Pfade neu zu entdecken und teilweise auch wieder gangbar zu machen. Seine Aktualisierungen sind mittlerweile im Geo4map Verlag erschienen und z.B. per Viewranger auch in einer App nutzbar.

    Auch 2019 zog es uns wieder nach Italien ins Val Grande. Dieses Mal führte uns die Route von Malesco über La Cima, Testa del Mater, Alpe Cortechiuso, Alpe Vou / Bivacco du Francia, Bochetta di Terza, Bivacco Alpe Pian di Boit, Pogallo, Cicogna, Bivacco Amici delle tre Veline, Corte Bue / Rifugio Serena bis zum Lago Mergozzo hinunter.

    Für die 50 Kilometer der Val Grande Durchquerung ergab das um die 6000 Höhenmeter und wir ließen uns 6 Tage dafür Zeit. Davon verbrachten wir je zwei halbe Ruhetage (sog. Nearos) am Bivacco du Francia und in Cicogna.

    Ein langer, harter Tag bis Cortechiuso

    Nach einem ausgiebigen Brunch in der “Bar Stazione” in Malesco stiegen wir gegen 13 Uhr bei bestem Wetter auf in Richtung der Capella del Crup. Dieser erste Anstieg hatte es schon in sich, an der Capella hat man dann auf knapp 6 Kilometern schon 980 Höhenmeter in den Beinen. In 3 ½ Stunden war aber dieser erste Teil der Tour geschafft, und wir genossen eine lange Pause im Schatten der Kapelle.

    Gegen 17 Uhr nahmen wir den Rest des Tages in Angriff. Über die Hügelketten der La Cima (1810 m) und Testa del Mater (1846 m) ging es für weitere 4 Stunden und weitere 730 Höhenmeter zum Bivacco Cortechiuso auf 1870 m. Bei einbrechender Dunkelheit und Donnergrollen überall um uns herum waren wir alle froh, die erste und anstrengendste Etappe der gesamten Tour gegen 21 Uhr geschafft zu haben.

    Schneefeld vor dem Bivacco Cortechiuso

    Bivacco Cortechiuso

    Das Bivacco Cortechiuso wird zwar gerade renoviert, ist aber geöffnet und hatte sogar eine frische Holzlieferung erhalten. Über Pfingsten wird das Gebiet um das Val Grande herum in Folge der nationalen Wanderwoche des Italienischen Alpenvereins geflutet, wir hatten also Glück und konnten von den Vorbereitungen dazu profitieren. Das Bivacco ist ausreichend eingerichtet, der kleine Ofen zieht gut, allerdings ist der offene Kamin gesperrt, da er überhaupt nicht mehr zieht.

    Planänderung

    Im Dämmerlicht beschließen wir, dass die Passquerung und der Grat über Cimone di Cortechiuso und Cima Marsicce auf über 2100 m mit unserer Ausrüstung nicht machbar ist und planten einen tieferen Übergang über die Bochetta di Terza auf 1836 m. Dort sollte, nach Augenschein und bis auf zwei größere Schneefelder, der Übergang ins Val Grande möglich sein. Das bedeutete aber auch, dass wir entweder einen weiteren, anstrengenden Tag mit vielen Höhenmetern machen mussten, um im Plan zu bleiben, oder dass wir am folgenden Tag nur bis zur Alpe Vou (Rifugio du Francia) absteigen und dort einen halben Tag Pause machen. Ein Blick in die Runde und der Plan stand: ein Nearo an der Alpe Vou! Den verlorenen halben Tag konnten wir an den letzten beiden Tagen wieder hereinholen.

    Cortechiuso und ein Nearo am Rifugio du Francia

    Wir schliefen lange, der lange Vortag steckte uns in den Knochen. Bei Tageslicht betrachtet war unsere Entscheidung, die Tour umzuplanen, goldrichtig. Zu viel Schnee da oben! Auf dem Bild sieht man gut, wie viel Schnee da noch drin liegt. Unsere Route wäre vom rechten Bildrand hereingekommen und durch den von hier aus gut erkennbaren Pass zwischen Gipfel drei und vier (von rechts gesehen) gegangen.

    Nach einem ausgiebigen Frühstück und gemütlichem Zusammenpacken machten wir uns auf den Weg. Keine 2 Kilometer und etwa 530 Höhenmeter tiefer wartete die Alpe Vou mit dem Rifugio du Francia auf uns. Kniffelig am Abstieg war nur, über den dank der Schneeschmelze ziemlich tiefen und schnellen Bach zu kommen.

    Rifugio du Francia

    Das Tal des Il Fiume, dem Gebirgsbach, ist wirklich wunderschön, wild, immer wieder mit Altschnee durchsetzt und von Gämsen bewohnt. Mittendrin, am auslaufenden Talkessel, thront das Bivacco du Francia, kurz vor dem Abstieg weiter ins Tal hinab.

    Der Brunnen an der Hütte lief nicht, aber uns fiel bei der Bachüberquerung schon auf, dass da Schläuche verlegt wurden. Wir reparierten einige Schlauchverbindungen, die wohl über den Winter auseinandergerissen wurden, und der Brunnen lief wieder.

    Holz für den Ofen, beziehungsweise den offenen Kamin, zu finden, war etwas aufwändiger, aber wir brachten schließlich doch ein Kaminfeuer in Gang und grillten unsere mitgebrachten Würste. Der Kamin zieht leider nicht sehr gut und qualmt daher ordentlich. Der Tipp von Tim, die Türe zu schließen, brachte auch keinen wesentlichen Erfolg. Wir konnten nur kräftig durchlüften, bevor wir uns für die Nacht einrichteten.

    Rifugio du Francia – Bochetta di Terza – Bivacco Alpe Pian di Boit

    Der dritte Tag sollte uns, nun ausgeruht, über die Bochetta di Terza führen. Um dort hin zu kommen, stiegen und rutschten wir aber erst eine knappe Stunde und 300 Höhenmeter tiefer, um dort unten dann auf den Pfad zu stoßen, der uns über den Pass bringen sollte. Noch war unklar, ob die Schneefelder kurz unterhalb des 1836 m hohen Passes überhaupt querbar sein würden. Wir beschlossen einhellig, dass wir kein Risiko eingehen und umkehren würden, falls es zu riskant werden würde. Insgeheim war aber auch jedem klar, dass diese Entscheidung nach 900 Metern Aufstieg nicht mehr gänzlich unbeeinflusst stattfinden würde.

    Bochetta di Terza

    Nach drei Stunden waren die 900 Höhenmeter geschafft, die Schneefelder waren, sagen wir mal, machbar. Der Schnee war zum Glück schon ziemlich weich, so ließen sich gut Tritte einschlagen. Beim oberen, doch recht steilen Schneefeld, wäre ein Abrutschen aber sicherlich nicht gut ausgegangen. Oben rasteten wir bei Windböen, Müsliriegel und vereinzelten Regentropfen. Der weitere Abstieg zur Alpe Pian di Boit auf 1120m zieht sich ordentlich, vor allem die letzte Hälfte durch den Wald ist steil und unangenehm. Die Wege im Wald sind komplett mit tiefem Laub bedeckt, das in Mulden und Vertiefungen bis zur Mitte des Unterschenkels reicht. Dadurch sind Steine auf dem Weg nicht mehr sichtbar und man tastet sich und stolpert vorsichtig Stück für Stück tiefer. Aber auch das war nach weiteren zwei Stunden und 850 Höhenmetern geschafft.

    Alpe Pian di Boit

    Im Tal kurz vor der Alpe entdecken wir herrliche Bademöglichkeiten, die wir auch ausgiebig nutzen. Das Wasser ist kalt. Sehr kalt, aber auch sehr erfrischend. Tagelang produzierter Schweiß und Gestank wollen gründlich abgewaschen werden.

    Badestelle bei der Alpe Pian di Boit

    Drei Steinhäuser, ein Brunnen, große Wiesenflächen für die Zelte, eine Spanierin und ein Brite erwarteten uns auf der Alpe Pian di Boit. Das beinahe luxuriöse Rifugio hat dank Solarmodulen sogar Licht. Wir stellen die Zelte auf, sammeln Holz, entfachen ein kleines Lagerfeuer an einer der Feuerstellen, trinken Kaffee und unterhalten uns mit den beiden anderen Gästen, die sich hier gerade häuslich einrichten. Sie wollen einige Monate hier bleiben. Es entfacht sich ein unterhaltsamer Geartalk mit der Spanierin. Sie ist seit 15 Jahren unterwegs und jetzt so langsam auf der Suche nach einem Platz, sich gemeinsam mit dem Briten häuslich niederzulassen. Der Abend verläuft entspannt und lustig.

    Pian di Boit – Pogallo – Cicogna

    Zur Mittagszeit rasten wir in Pogallo. Pogallo hat eine wechselhafte und schlimme Geschichte, wie so viele Alpen und Dörfer hier im Val Grande.

    Pogallo

    Blühende Holzwirtschaft

    Um 1900 herum blühte hier dank Carlo Sutermeister, einem Schweizer Universalgenie aus Zofingen, der Holzhandel. Dieser Sutermeister baute das erste Wasserkraftwerk Italiens, gründete eine Schifffahrtsgesellschaft, gründete die Banca Populare di Intra, und gründete die Sektion Verbano Intra des italienischen Alpenvereins und stieg hier in Pogallo in den Holzhandel ein. Die Ruine seiner Villa steht heute noch am Rande der großen Wiese vor dem Dorf, und auf den von ihm durch die Schlucht angelegten Wegen zum Abtransport des Holzeinschlags wandert man heute immer noch wunderbar. In Pogallo gab es damals sogar eine Schule, eine Gefängniszelle und natürlich Kneipen. Heute ist vom ehemals blühenden Leben nichts mehr übrig.

    Partisanenland: Hoffnung, Verderben und die demokratische Keimzelle Italiens

    Ende 1943 formierte sich in in Norditalien eine starke Widerstandsbewegung, im Val Grande, den Ossola Tälern und am Lago Maggiore kam es immer wieder zu Gefechten. Immer wieder trafen die Partisanen die Infrastruktur der deutschen Besatzer und italienischen Faschisten empfindlich, führte Guerillaaktionen durch und zogen sich ins unzugängliche Dickicht der tiefen Täler zurück.

    Im Juni 1944 marschierten etwa 17.000 Nazis und Faschisten unter der Führung der SS durch das Tal und massakrierten alle, die sie antrafen und von denen sie annahmen, Partisanen zu sein. Das waren die berüchtigten “Rastrellamento”, die “Auskämmungsaktionen”, bei denen deutsche Spezialeinheiten systematisch die Täler bis zur Schweizer Grenze durchsuchten. In Pogallo wurden so am 18. Juni 1944 18 junge Widerstandskämpfer erschossen. In der gesamten Gegend des Val Grande und der angrenzenden Täler fanden etwa 500 Antifaschisten der Resistenza einen gewaltsamen Tod. Und doch erstarkte die Resistenza hier, die Machtverhältnisse verschoben sich.

    Im September 1944 schafften es die Partisanen, die Partisanenrepublik Ossola auszurufen und eine zivile Regierung auf italienischem Boden einzusetzen. Über 82.000 Menschen lebten für 44 Tage in dieser freien Republik. Viele der Gesetze wurden später zur Grundlage der heutigen italienischen Verfassung. Die Alliierten ließen die Partisanenrepublik im Stich und am 9. Oktober 1944 eroberte die Wehrmacht gemeinsam mit italienischen Faschisten das befreite Gebiet zurück. Rund 35.000 Flüchtlinge versuchten, über die verschneiten Berge und in Zügen durch den Simplon in die Schweiz zu entkommen. Szenen, die unserer jüngeren Generation spätestens seit 2015 ganz nah sind.

    Ein sehr eindrückliches und lesenswertes Interview mit der Partisanin Antonietta Chiovini führte Holger Fröhlich und gibt Auskunft und Augenzeugenbericht zu dieser Zeit. Bei Alpi Ticinesi kann man den Verlauf der Partisanenkämpfe der Region nachvollziehen. Der Besuch der Casa della Resistenza in Fondotoce steht für uns bei unserem nächsten Besuch auf dem Pflichtprogramm!

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    Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Siedlungen und Alpen im Gebiet des Val Grande aufgegeben. Teils, weil die Nazis die Infrastruktur zerstörten, teils aber sicher auch, weil viele der grausamen Erinnerung entfliehen wollten.

    Ab Pogallo wird der Pfad – von Sutermeister angelegt und daher “Strada Sutermeister” genannt – nun deutlich touristischer, inklusive Schautafeln, die über das Leben und Arbeiten zu früheren Zeiten hier im Tal aufklären. Auch Fauna, Flora und die verschiedenen Felsformationen sowie deren Entstehung werden erklärt. Bis Cicogna überquert man über neue Hängebrücken und alte, steinerne Kolosse den rauschenden Fluß Rio Pogallo tief unten in der Schlucht mehrmals, immer wieder öffnen sich atemberaubende Blicke in den wilden, schroffen Taleinschnitt.

    Cicogna

    Cicogna ist das letzte bewohnte Dorf in der Gegend. Früher lebten hier 700 Menschen, es gab sieben Kneipen. Heute leben hier noch 16 Menschen, darunter 4 Kinder. Viele Gebäude sind verlassen, verschlossen und stehen zum Verkauf. Das Zentrum des Lebens findet hier an der kleinen Bar statt, die an das Hostel und Bed and Breakfast “Ca’ del Pitur” von Sara Bianci und Tourguide Federico Mazzoleni angegliedert ist. Als wir eintreffen, werden wir von oben schon gegrüßt, viel ist noch nicht los Anfang Juni. Nur einige Tagestouristen verirren sich die 13 Kilometer lange, enge und einspurige Straße hier herauf. Die Anfahrt ist schon ein Abenteuer für sich! Wir duschen ausgiebig und genießen den Gaumenschmaus, den Sara uns zaubert.

    Nach insgesamt 10 Kilometern, 1380 m Abstieg und dank der vielen Gegenanstiege trotzdem schon wieder 980 m Höhengewinn, fallen wir erschöpft und gesättigt in die Betten.

    Literatur:

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